Klaus-Dieter Pape, Heilbronn

Lerne von dem großen Lehrer“

Zum neuen „Lehrer-Buch“ der Zeugen Jehovas


„Lerne von dem großen Lehrer“ – unter diesem Titel hat die Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft (WTG) auf den diesjährigen Bezirkskongressen ein neues Lehrbuch mit 256 Seiten Umfang zur Kinder- und Glaubenserziehung „freigegeben“. Dieses Buch löst das 1972 erschienene Buch „Auf den großen Lehrer“ ab, das Generationen von ZJ-Kindern begleitet hat. Das Buch ist zunächst scheinbar nicht zur Verbreitung an der Haustür gedacht, sondern zur Schulung der Kinder von Zeugen Jehovas (ZJ).

Bemerkenswert ist das Erscheinungsdatum, da die WTG sich noch immer bemüht in unserem Land als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Vor allem seit das Bundesverfassungsgericht (BVG) in seinem Urteil vom 17. Mai 2001 das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997 in Berlin aufhob, um in der Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht Berlin den Weg für eine inhaltliche Prüfung bestimmter Fragen bei den ZJ freizumachen. Ein zentraler Fragenkomplex soll sich bei dieser Überprüfung auf die Kindererziehung bei den ZJ richten. Daher gebührt dem neuen „Lehrer-Buch“ erhöhte Aufmerksamkeit, könnte die WTG doch hierin Lehränderungen auf dem Hintergrund des BVG-Urteils deutlich machen.



Arbeitsweise


Das neue „Lehrer-Buch“ will Glaubens- und Erziehungshilfe sein. Wie sollen die Eltern mit diesem Buch arbeiten? Das Buch „bietet Eltern und Kindern biblischen Stoff, den sie zusammen lesen können... Ihr werdet bemerken, dass dieses Buch den Kindern Reaktionen entlocken möchte... Es kann natürlich sein, dass verkehrte Antworten kommen. Die Erklärungen, die den Fragen folgen, können dem Kind dann zu den richtigen Schlussfolgerungen verhelfen.“ (7) Deshalb ist klar: „Je mehr es sich damit beschäftigt, umso mehr gute Gedanken wird es verinnerlichen. Lasst es euch aber auf keinen Fall nehmen, regelmäßig gemeinsam in dem Buch zu lesen, um die innige Bindung und die Achtung zwischen euch und eurem Kind zu stärken.“ (7) Ein hoher Anspruch: dieses Buch will der geistige und geistliche Kitt zwischen Kindern und Eltern sein!



Form und Inhalt


In den 48 Kapiteln des Buches findet man keine Hinweise auf das Alter der Zielgruppe. Persönlich würde ich die Sprache und das Niveau für das Kindergarten- bis Grundschulalter ansetzen. Die Kapitel sind überwiegend nach dem gleichen Schema aufgebaut: Zuerst wird eine Handlungsweise Jesu als Lehrbeispiel vorgestellt, anschließend wird dem Kind gezeigt, wie es diese Handlungsweise in seinem Alltag umsetzen soll. Es wird nach dem bewährten Frage-Antwort-Schema der WTG verfahren, wobei die Fragen an sich rein rhetorisch sind, denn die Antworten sind zumeist schon in den Fragen enthalten. Die Interpretation der Handlungsweise Jesu und die daraus zu folgernde Umsetzung in den Alltag des Kindes, sind Interpretationen der Verfasser, auch wenn an verschiedenen Stellen betont wird, dass dies alles Gedanken „Jehovas“ seien.

Es ist nirgends die Absicht zu erkennen, dass das Kind in einen Diskussionsprozess mit den Eltern eintreten sollte, um einen selbstverantworteten Weg zur eigenständigen Persönlichkeit zu finden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Verhaltensvorgaben sind klar und eindeutig, so wie man es aus der übrigen WTG-Literatur für die ZJ seit Jahrzehnten gewohnt ist. Der Inhalt des Buches lässt sich daher in wenigen Sätzen beschreiben:

Der Mensch ist von Geburt an schlecht, da er mit einem freien Willen ausgestattet, ständig in Gefahr ist, diesen zu Gunsten seiner eigenen Vorstellungen von Glück zu missbrauchen. „Jehova“ muss daher die Menschen von klein auf lehren und „zurechtbringen“, damit sie nicht auf der Spur des Teufels den Weg in die Vernichtung gehen, sondern den „Weg der Wahrheit“, der nach der „Schlacht von Harmagedon“ in das 1000-jährige irdische Paradies führe. Um auf dem Weg ins Paradies bleiben zu können, muss man die „ständig heller werdende Wahrheit“ der ZJ, die die WTG herausgibt, fortwährend in sich aufnehmen und diese „Wahrheit“ in der je aktualisierten Version „Menschen guten Willens“ an den Haustüren und anderswo predigen.

Kenner der ZJ wissen, dass diese Inhaltbeschreibung für jedes andere WTG-Buch gilt. Da jedoch das alleinige Fundament und das Gerüst immer das Gleiche ist, kann die WTG nie anders verfahren. Es geht immer um den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen „Jehova“ und Satan, in den die ZJ unabhängig von ihrem Alter gestellt sind.



Der Teufel als pädagogischer Gehilfe


Und so lässt sich dieser Dualismus auch in dem neuen „Lehrer-Buch“ recht leicht und weit verbreitet nachweisen. Denn wie ein roter Faden durchzieht das Buch der Gedanke: überall lauert der Teufel und seine Dämonen und versucht unablässig die auserwählten ZJ zu verführen. Der allgegenwärtige Teufel wird so zu einem zentralen Erziehungsinstrument.

Dazu einige Kostproben, die kleine Kinder von ZJ unentwegt aus dem Munde ihrer Eltern vernehmen sollen: „Der Teufel möchte jeden dazu bringen, Jehova ungehorsam zu sein. Deshalb versucht er, uns auf schlechte Gedanken zu bringen... Der Teufel sagt, niemand würde Jehova wirklich lieben. Das behauptet er auch von dir und von mir.“ (51) Welches Kind eines ZJ will da noch behaupten, „Jehova“ nicht lieben zu wollen. Oder: „Satan ist Gottes Feind und er ist auch unser Feind. Wir können ihn nicht sehen, weil er ein Geist ist. Aber er kann uns sehen.“ (52) Hier wird der Teufel als ständige Bedrohung installiert, der unsichtbar immer und überall ist und alles kontrollieren und manipulieren kann. So muss ein Kind von ZJ auch im ganz normalen Alltag mit dem Teufel rechnen. Wenn ein Kind vom frischgebackenen Kuchen ohne Erlaubnis der Mutter naschen will, dann ist das Kind Satan auf den Leim gegangen: „Satan möchte, dass du nicht auf sie [die Mutter, d. Verf.] hörst.“ (54)

Grundsätzlich gilt für die Verfasser: „Dämonen jagen den Menschen auch gerne Angst ein. Manchmal verstellen sie sich und tun so, als wären sie jemand, der schon tot ist. Es kann sogar sein, dass sie die Stimme von Verstorbenen nachmachen.“ (60) Oder ist der folgende Vergleich als Gute-Nacht-Geschichte geeignet? „Genauso wie Löwen oft hinter kleinen Tieren herjagen, haben es Satan und seine Dämonen oft auf kleine Kindern abgesehen... Aber Jehova ist stärker als Satan. Jehova kann seine Kinder beschützen oder er kann das, was Satan ihnen antut, wieder gutmachen.“ (170) Kinder von ZJ als Spiel- und Versuchsobjekte beim Kräftemessen zwischen dem bösen Satan und „Jehova-Superman“? Deshalb ist jeder ZJ und jedes Kind von ZJ auf der sicheren Seite, wenn sie das tun, was ihnen die ZJ-Führung in ihren Schriften als richtiges Verhalten darlegt, denn wenn „wir das Richtige tun, brauchen wir vor den Dämonen keine Angst zu haben“ (61).



Sexualität und sexueller Missbrauch


Noch fragwürdiger wird es, wenn die WTG-Verfasser des Teufels Gehilfen, die Dämonen, sexualpädagogisch ins Spiel bringen: „Zum Beispiel gefällt es den Dämonen, wenn Jungs und Mädchen gegenseitig mit ihrem Penis oder ihrer Scheide spielen. Wir möchten den Dämonen aber keinen Gefallen tun, stimmts?“ (60) Was hinterlässt diese Art der völlig ungenügenden und verkürzten, sehr einseitigen Sexualerziehung in der Seele eines Kleinkindes, das einen natürlichen Umgang mit seinem Körper erst erlernen muss? Hier wird sehr subtil von Anfang an mit Angst gearbeitet, mit Angst vor den eigenen Gefühlen und Angst vor dem eigenen Körper. Diese Sätze sind Gift für einen wertschätzenden Umgang mit dem eigenen Körper.

Vor diesem Hintergrund zeigt der Versuch, im Kapitel 32 „Wie Jesus beschützt wurde“ Kinder von ZJ vor sexuellem Missbrauch zu schützen, die ganze Unsicherheit der WTG, mit diesem Thema umzugehen. Im Gegensatz zum Vorgängerbuch wird auf dieses Thema jetzt zumindest eingegangen, da es offensichtlich auch unter ZJ Fälle von Missbrauch gibt. Wäre es ein unbedeutendes Phänomen unter ZJ, würde es in diesem Buch keine Erwähnung finden.

Einleitend wird auf Erwachsene hingewiesen, die mit Kindern Sex haben wollen. Daraus folgern die Verfasser: „Wenn das passiert, kann es sein, dass der Junge oder das Mädchen das schlechte Beispiel von so jemandem nachahmt. Solche Kinder fangen dann selber an, mit ihren Genitalien etwas Verkehrtes zu machen.“ (170) Dieser unverständliche Satz bleibt so isoliert stehen, ohne dass hier über die Folgen und Auswirkungen des Missbrauchs für die Kinder gesprochen wird.

Ungewöhnlich deutlich werden die Kinder hingegen ermutigt, Übergriffe, auch wenn sie innerhalb der Familie passieren, abzuwehren: „Lass niemals irgendjemand an deinem Penis oder an deiner Scheide spielen! Das darf auch nicht dein Bruder, deine Schwester, deine Mutter oder dein Vater... Wenn dich einer unten anfassen will, dann sag laut und deutlich: ‚Hör auf damit, sonst erzähl ich das jemand!’“ (171) Eine Abbildung, auf der ein kleines Mädchen neben seinem Bett sitzend einen Mann mit ausgestrecktem Arm von sich weist, unterstreicht diese Aufforderung auch optisch. Positiv zu vermerken ist auch, dass danach – wohl an der einzigen Stelle des Buches – ein Kind grundsätzlich entschuldet wird. Wenn ein Missbrauch passiert, sei das Kind nicht schuld daran: „Du bist nicht schuld. Und ganz egal wer es ist, sprich mit jemandem darüber!“ (171)

Da sexueller Missbrauch in den überwiegenden Fällen zu Hause in der eigenen Familie passiert, ist es allerdings fraglich, ob der abschließende Hinweis wirklich sinnvoll ist: „Wenn dich deine Eltern vor schlechten Menschen oder gefährlichen Orten warnen, solltest du unbedingt auf sie hören. Dann können dir schlechte Menschen nicht so leicht etwas antun.“ (171)



Gehorsam und Schuld


Zur Erziehung der ZJ gehören zwei wesentliche Begriffe: Gehorsam und Schuld. Gehorsam bringt zunächst Sicherheit. Sicherheit für das jetzige Leben im „geistigen Paradies“ unter den ZJ und Sicherheit für das 1000-jährige „paradiesische Leben“, nach der angeblich unmittelbar bevorstehenden Vernichtung der bösen Menschen und der Vernichtung aller Regierungen und Gesellschaftsformen dieser Erde. Um den Kindern die Wichtigkeit dieser Begriffe zu zeigen, setzt die WTG im Alltag der Kinder an, beim Spielzeug: „Spielsachen werden alt und gehen kaputt. Manchmal will man sie dann gar nicht mehr haben. Du hast aber etwas, was viel wichtiger ist als Spielsachen. Was könnte das sein? – Es ist dein Leben. Das Leben ist sehr wichtig, denn wenn man tot ist, kann man gar nichts mehr tun. Damit wir am Leben bleiben, müssen wir tun, was Gott gefällt, stimmts?“ (89) Welches Kind will nicht am Leben bleiben? Daher müssen alle Menschen Gott gehorchen, denn: „Das Leben hängt davon ab, dass man Jehova gehorcht.“ (49)

Und was muss man deshalb tun? – Das, was Gott gefällt... Gott freut sich, wenn wir das tun, was er möchte. Was wäre das zum Beispiel? – Wir können in der Bibel lesen, zu den Zusammenkünften gehen, zu Gott beten und anderen von ihm erzählen. Das alles ist sehr, sehr wichtig.“ (90) Also nicht was ein Kind für Talente und Vorlieben hat, ist wichtig zu entwickeln und auszuleben, sondern nur, was für die WTG wichtig ist: Versammlungen der ZJ besuchen, Literatur der WTG lesen und anderen den Inhalt dieser Literatur predigen. Alles andere ist sehr, sehr unwichtig im Leben eines ZJ-Kindes.

Da die ZJ immer in Gefahr sind, nicht genügend für „Jehova“ und seine „irdische Organisation“ zu tun, lädt jeder ZJ Schuld auf sich. „Doch unsere Schulden bei Gott sind sehr hoch, weil wir so oft etwas verkehrt machen. Sie sind wie die sechzig Millionen Geldstücke, die der Sklave dem König schuldete. Doch Gott ist sehr gütig. Wenn wir etwas Verkehrtes gemacht haben, vergibt er uns. Er bestraft uns dafür nicht mit dem ewigen Tod.“ (81)

Schuld und Vernichtung in Harmagedon (dies bedeutet „ewiger Tod“) sind Folgen von zu wenig Engagement des Einzelnen für die ZJ-Organisation. Und deshalb ist es wichtig für jeden ZJ und jedes Kind von ZJ, dass sie innerhalb der Gemeinschaft der ZJ, unter ihren „Brüder und Schwestern“ ihren Lebenssinn suchen. Tun sie es nicht, droht ihnen Gott mit dem Tod: „Hast du gemerkt, warum es so wichtig ist, dass wir unsere Brüder und Schwestern lieben? – Wenn wir sie nicht lieben würden, wären wir wie die Kinder von wem? – Wie die Kinder des Teufels. So möchtest du bestimmt nicht sein, oder? – Wie können wir denn beweisen, dass wir Kinder Gottes sein möchten? – Dadurch, dass wir unsere Brüder und Schwestern wirklich lieben.“ (225) Und Liebe unter ZJ zeigt sich darin, wenn alles getan wird, was einen guten ZJ ausmacht: Gehorsam den Anweisungen der Brüder in der Leitung folgen, WTG-Literatur studieren, die ZJ-Versammlungen besuchen und in den Predigtdienst gehen.



Ablehnung und Empfehlung


So ist in diesem neuen „Lehrer-Buch“ nichts substantiell Neues zu finden. Das negative Menschenbild der WTG hat sich gegenüber dem Vorgängerbuch nicht wesentlich geändert, die klischeehaften Grundaussagen sind praktisch gleich geblieben. Von daher ist dieses Buch für alle, die sich kompetente Hilfe in Erziehungs- und Glaubensfragen erhoffen, nicht geeignet. Mit Angst und subtiler Manipulation wird kein Beitrag zu einer menschenwürdigen und sozialfähigen Persönlichkeitsentwicklung geleistet. Dafür ist der berühmte „gesunde Menschenverstand“ weitaus besser geeignet.

Eine Empfehlung zum Lesen dieses Buches möchte ich dennoch geben. Sie geht an alle, die beruflich mit den Zeugen Jehovas zu tun haben. Ob dies Pädagogen, Psychologen, Rechtsanwälte, Ärzte, Richter, Jugendamtsmitarbeiter oder Seelsorger sind, viele Fragen zum Verhalten von Zeugen Jehovas und ehemaligen Zeugen Jehovas werden nach der Lektüre eine Antwort finden.



Erschien zuerst im Materialdienst der EZW, Heft 10/2003, S. 380 ff. Hier veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung der Redaktion. (vgl. www.ekd.de/ezw)