Sabine

Ich wurde 1967 in diese Sekte hineingeboren. Es war acht Jahre vor dem prophezeiten Weltuntergang der Zeugen Jehovas, genannt Harmagedon. Meine Mutter ließ sich taufen, als ich drei Jahre alt war.

Wir Kinder wurden schon mit ca. einem Jahr körperlich misshandelt. Nicht nur meine Geschwister und ich, sondern auch viele andere Kinder dieser Sekte. Mit einem Bibelzitat, das heißt: “Wer sein Kind liebt, züchtigt es“ wurde dieses Verhalten der Erwachsenen nicht nur entschuldigt, sondern noch untermauert. Die Zeugen Jehovas sagen, dass es den Eltern überlassen bleibt, wie sie dieses Zitat auslegen und ausleben. Dadurch entzieht sich die Sekte der Verantwortung. Es ist aber ein unausgesprochenes Gesetz, es ist für mich schwer, zu beschreiben, welche Aura da erzeugt wird. Die Verantwortlichen dürfen sich keiner Straftat schuldig machen, die gegen das Grundgesetz unseres Staates verstößt, damit sie in unserer demokratischen Gesellschaft nicht verboten werden. Man verspürte bei den Eltern teilweise eine richtige Befreiung, als sie die Kinder misshandelten. Sie konnten den Stress, unter dem sie selbst standen, an einem Schwächeren auslassen. Die Erwachsenen ermunterten sich gegenseitig, wenn ein Kind nicht bedingungslos gehorchte, ihm den Hintern zu versohlen. Wenn es sein muss, auch mit einem Gürtel oder anderen Gegenständen.


Wir wurden damals noch in den Zusammenkünften der Z.J., genannt Königreichssaal, und auf den Kongressen (vor allem in Kaiserslautern, wo die Z.J. ein eigenes Kongresszentrum besitzen) schamlos misshandelt. Die Prozeduren fanden auf den Toiletten statt. Ich habe miterlebt, wie andere Kinder, meist während ein Vortrag gehalten wurde, da dann auf der Toilette nicht so viel Betrieb war, misshandelt wurden. Die Mütter schlugen ihre Kinder, da die es nicht schafften ca. 6-8 Stunden still zu sitzen ohne ein Wort zu sagen, ohne Möglichkeiten zu spielen oder zu schlafen. Es gab nur sehr kurze Pausen. Manche Mütter griffen zu rabiateren Mitteln. So wurde den Kindern die Hand zwischen Tür und Angel gehalten und die Tür zugedrückt. Auch wurden die Hände der Kinder unter heißes Wasser gehalten, um sie zu bestrafen. Ich war von meinen Eltern abhängig, wie jedes Kind. Somit musste ich dem glauben, was sie mir vermittelten. Da sie an die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft glauben, trichterten sie mir ein, dass ich niemals an diesen Lehren und an dieser Gesellschaft zweifeln dürfte. Es wurde gleichgesetzt mit Gotteslästerung. Da Kinder aber neugierig sind und Dinge hinterfragen, müssen sie unter Druck gesetzt werden, um keine Unruhe in die Gesellschaft zu bringen. Dies geschah, indem man mir sagte: “Jehova, der eigentlich ein liebevoller Gott ist, sieht alles, was man tut und denkt“. Wenn man nicht lieb ist, den Eltern nicht gehorcht, kommt man nicht in das Paradies, das nach Harmagedon errichtet wird. Um zu vermeiden, dass wir Kinder Informationsschriften anderer Religionen lesen, wurde uns gesagt, dass wir uns mit diesen Schriften Dämonen ins Haus holen.


Ich verbrachte die ersten acht Jahre in meinem Leben in einer Dunkelheit, geprägt von Angst. Angst vor körperlicher Misshandlung. Angst vor Harmagedon und ob ich weiter leben darf. Das Jahr 1975 war das schlimmste in meinem Leben. Ich dachte jeden Tag, dass Harmagedon kommt und ich sterben müsste. In der Schule konnte ich mich nicht konzentrieren. Zwei bis drei Tage in der Woche war ich in der Schule ständig übermüdet, da ich am Vortag den Königreichssaal oder andere Zusammenkünfte besuchen musste. (Ich wurde als sehr ruhige Schülerin beschrieben). In der großen Pause war ich alleine, ich stellte mich an die Hauswand, beobachtete den Himmel, ob ein Zeichen für den Weltuntergang zu sehen wäre. Ich betete zu Gott, er solle warten, bis ich bei meiner Mutter bin; oder bei einem anderen Zeugen, (der ja vielleicht auch weiterleben darf). Falls ich weiterleben darf, wollte ich nicht über meine toten Mitschüler stolpern; die ja nach dem Glauben der Z.J. nicht das Paradies erreichen können. Ich sah im Geiste auf dem Schulhof meine Mitschüler und Lehrer als Leichen auf dem Boden liegen. Ob Gebäude zerstört werden, wusste ich nicht. Bis zu meinem 12. Lebensjahr machte ich in die Hosen, die ich selbst säuberte, damit es nicht bemerkt wurde. Ansonsten wäre ich bestraft worden.


Im Unterricht selbst konnte ich mich nicht konzentrieren, da ich immer nach draußen schaute ob Harmagedon käme. Jedes normale Gewitter versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich bekam Herzrasen, musste schwer und schnell atmen und fing an zu zittern. Es stellten sich Kopfschmerzen ein. Ich war nicht in der Lage, irgend etwas zu tun. Ich konnte nur noch im Bett liegen, am ganzen Körper zitternd, manchmal der Urin einfach davon laufend. Diese Symptome bekam ich dann auch, wenn ich über den Glauben und die Sekte nachdachte. Vor allem dann, wenn sich kritisches Denken einstellte. Meine Welt war schwarz, es gab nichts Schönes, nur die Hoffnung auf ein Paradies, das man vielleicht erreichen kann. Der letzte Tag im Jahr 1975 (heute musste es passieren) war grauenvoll, ich kann es nicht beschreiben. Das Gefährliche an dieser Sekte ist, dass sie in der Öffentlichkeit als liebe Mitmenschen und richtige Christen angesehen werden, die keiner Fliege etwas zuleide tun können.

Ein positives Erlebnis in meiner Kindheit war der Tag, an dem ich in der Schule das Grundgesetz ausgehändigt bekam. Vor allem die Religionsfreiheit mit 14 Jahren ließ mein Herz einen Freudensprung machen. Bis zu diesem Tag dachte ich, ich muss bis zu meiner Volljährigkeit aushalten, um dem ganzen Terror zu entkommen.

All denjenigen, die fest an Gott glauben, möchte ich noch sagen, dass man auch ohne Sekten und sektenähnliche Institutionen glauben kann.

Der Ausspruch von Jesus sagt:“ Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammenkommen, bin ich mitten unter ihnen“.